Die Geschichte der Mafia
Salvatore Lupo
(aus dem Italienischen übersetzt von Anja Rigi Luperti und Brigitte Lindecke)
Düsseldorf: Patmos, 2002
359 S.

Gegenstand, Methodik, Datengrundlage:
Eine historische Abhandlung über die sizilianische Mafia, gestützt auf Archivmaterial, die sich kritisch mit bisherigen Interpretationen auseinander setzt.

Zum Inhalt:
"Mafia" ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein häufig gebrauchter, in seiner Bedeutung vielschichtiger Begriff, und es scheint, dass gerade die Weite und Unbestimmtheit den Begriff so beliebt machen. Zum einen bezieht er sich auf ein System illegaler Kontrolle über Märkte, zum anderen ist Mafia eine Metapher der Rückständigkeit, "eines kulturellen Kodexes in Feindschaft zur Moderne. Dieses Schema wird sich dann in verschiedenen Formen noch über das ganze folgende Jahrhundert fortsetzen. Die öffentlichen Autoritäten beklagen ständig die Unfähigkeit der traditionellen sizilianischen Kultur, die Souveränität des Gesetzes anzuerkennen, gleichzeitig aber ist ihnen diese Unfähigkeit als Herrschaftsinstrument willkommen" (S. 11). In eine ähnliche Richtung geht die von der Linken vertretene Idee, die "Moderne" werde das Phänomen Mafia von selbst zerstören. Heute hat sich der Kontext, den man schon früher nur simplifizierend als ‚archaisch' bezeichnen konnte, in all seinen Elementen gewandelt, und dennoch gibt es immer noch etwas das "Mafia" genannt wird. Die Erklärung hierfür ist eine Deutung des Verhältnisses von Mafia und Kultur, wonach die Mafia sich selbst der kulturellen Kodizes bedient, sie instrumentalisiert, modifiziert und daraus ein ‚Bindemittel' für das eigene Erscheinungsbild macht. "Es ist also vor allem die Mafia selbst, die den Topos der traditionellen Kultur heranzieht, um sich selbst zu beschreiben. (...) Die Mafiagruppen verwenden diese Ideologie, um nach außen einen Konsens zu schaffen und nach innen Geschlossenheit (...) Auch wird das ideologische Schema dadurch gerettet, dass eine neu entstandene Mafia konstatiert wird, die in der Zwischenzeit zum Verbrechertum verkommen sei und nicht mehr den Sinn für Respekt und Ehre der alten Mafia habe. Dieses Argument klingt aber verdächtig, wenn man sich nur vor Augen führt, dass solche Argumentation schon 1875 (...) auftaucht (...), um sich dann in zyklischer Wiederkehr durch unsere ganze Geschichte zu ziehen" (S. 18).
Mafia-Aktivitäten haben einen Doppelcharakter, der auf ein zweifaches Organisationsmodell verweist. "Auf der einen Seite - im Falle Palermos - haben wir eine Reihe von Organisationen, die ihren Namen von dem Territorium ableiten, in dem sie arbeiten, und die über den Schutz bzw. die Erpressung ihre Aktivitäten finanzieren (...). Auf der anderen Seite (...) gibt es das Netz der Geschäfte, das die verschiedenen Organisationen quer durchzieht und an dem die Mitglieder zu bestimmten günstigen Bedingungen partizipieren können, wobei sie aber ihr eigenes Kapital riskieren und Geld als Einzelpersonen verdienen. (...) Die beiden Funktionen (...) reagieren aufeinander, treten miteinander in Konflikt und sind auf jeden Fall immer in Verbindung, sodass es tatsächlich unmöglich ist, den Mafioso, den Beschützer, Vermittler, Garant vom kriminellen Händler, dem Beschützten, zu unterschieden" (S. 25).
In den sechziger und siebziger Jahren interessierte nur das "mafiose Verhalten", gleichgesetzt mit dem des traditionellen Sizilianers, während "die Mafia" als autonome Struktur, unabhängig vom Einzelnen, angeblich überhaupt nicht existierte, da die Sizilianer sich nur mit der Familie und der Klientel identifizieren könnten, nicht aber mit einer dem übergeordneten Organisation. Dieses Bemühen, "die ganze Thematik auf eine mediterrane Anthropologie zu reduzieren (entspricht) der Interpretation, die die Mafiosi von sich selbst zu geben versuchen" (S. 30). "Heute (...) sind fast alle bereit anzuerkennen, dass die mafiose Organisationen charakterisiert sind durch eine Kontinuität über das Leben der einzelnen Mitglieder hinaus, durch eine hierarchische Struktur und durch Militanz, die einhergeht mit einem ‚Eintrittsfilter'" (S. 31), entlehnt der "Sektenlogik" der Freimaurerei (S. 34). "Um ihre Ziele zu verwirklichen, reglementiert die Mafiaorganisation die Beziehungen im Inneren jeder einzelnen Gruppe, vermeidet die Konkurrenz zwischen den Gruppen durch das Prinzip der territorialen Kompetenz und mit einer Reihe von Klauseln und Zusatzbestimmungen für den Fall, dass dieses Prinzip in einer konkreten Situation nicht angewendet werden kann, sieht ad-hoc-Einigungen vor oder weniger instabile föderative Strukturen, falls die Gesamtheit der Normen noch nicht ausreichen sollte, den Frieden zu erhalten" (S. 35-36). "Die Tatsache, dass die Mafia ein Rechtssystem sein will, bedeutet allerdings noch nicht, dass sie es auch immer schafft, die Beziehungen in ihrem Inneren und die Beziehungen nach außen wirklich zu regeln. Die Zentralisierungsprozesse selbst rufen härteste Auseinandersetzungen hervor" (S. 38).
Die historischen Ursprünge der Mafia liegen im Prozess der ‚Demokratisierung der Gewalt' im Zuge der Abschaffung des Feudalsystems, mit dem das Recht, Gewalt zu gebrauchen, das vorher in den Händen der Aristokratie lag, de jure an den Staat übergeht, de facto aber in der Hand von Privatleuten bleibt. Die Mafia entsteht als Ordnungsmacht aus der Beziehung einer ‚fehlgeleiteten' Bürgerschicht, den Großpächtern und Großgrundbesitzern, mit ‚Gewalttätern'. Mafiosi betätigen sich als Bewacher, als Pächter und als Geschäftsvermittler. Insbesondere in ihrer Funktion als Vertrauensmänner der großen Händler und großen Landbesitzer erreichen die Netze ihrer Beziehungen eine Ausdehnung, die weit über den lokalen Bereich hinausgeht, und es entstehen komplexe Beziehungen zwischen Politik, Finanzwelt, gewöhnlicher Kriminalität und mafioser Kriminalität.
Die enge Verknüpfung von Politik und Mafia ebnete den Weg für die antidemokratische Polemik der Faschisten. 1925 wird Cesare Mori mit weitreichenden Vollmachten zum Präfekt von Palermo ernannt. Ein Jahr später kommt es zu großen Razzien mit hunderten von Festnahmen mutmaßlicher Mafiosi, und selbst die Faschisten bleiben nicht verschont. Der palermitanische Parteiverband wird aufgelöst und ihrem Führer der Prozess gemacht. Die Anti-Mafia-Aktion Moris dient damit nicht nur der Bekämpfung der Mafia, sondern auch der Eliminierung unbequemer Personen, und trägt zu einem Wiedererstarken der ländlichen Aristokratie bei. Fünfhundert Mafiosi fliehen in die USA und die Mafia als Organisation hört auf zu existieren.
Nach der alliierten Invasion Siziliens werden die Beziehungsnetze, die Mori zerstört hat, in der sizilianischen Unabhängigkeitsbewegung neu geknüpft, und die politischen Unruhen und das Banditentum erlauben es der Mafia, sich erneut als Ordnungsmacht zu profilieren. Mit dem Aufgehen der Separatistenbewegung in der Christdemokratischen Partei (DC) schließlich ergeben sich wichtige Beziehungen zu politischen Entscheidungsträgern. So nutzen mafiose Feldhüter bei der Liquidierung der Güter ihrer Exherren politische Verbindungen, um sich Vermögen zu sichern und neue Klientele zu bilden.
"Die rechte Antimafia verschwindet und mit ihr die antimafiosen Spannungen in den Staatsapparaten. (...) Die Mafiosi haben sich ein wenig Wohlwollen verdient, indem sie sich die gleichen Feinde gesucht haben wie die Regierung und das Bürgertum" (S. 247). Stattdessen greift die Linke das Thema auf, angeregt durch die Kefauver Anhörungen des U.S. Senats. Unter dem Eindruck des so genannten 'ersten Mafiakriegs', in dem sich zwei Gruppen, die Greco und die La Barbera, mit Bomben und Maschinengewehrsalven bekämpfen, wird im Parlament eine Untersuchungskommission gebildet und neue repressive Maßnahmen ergriffen, wie ein Gesetz für die Verhängung eines Zwangswohnsitzes, die den organisatorischen Aufbau der Mafia erschüttern und zur Auflösung des obersten Koordinationsgremiums, der so genannten 'Kommission', führen. Erst Ende der 60er Jahre kommt es zu einer Wiederbelebung der mafiosen Gruppen, nachdem der Großteil der Bosse unbeschadet aus den gegen sie geführten Prozessen hervorgeht. Gleichzeitig führt die Anordnung von Zwangswohnsitzen zu einer Ausdehnung mafioser Netzwerke nach Norditalien.
Ende der 70er Jahre setzt ein noch nie da gewesener Boom im transatlantischen Drogenhandel ein, der Lieferanten in Sizilien und sizilianischstämmige Abnehmer in New York verbindet. In den enormen Profiten aus dem Drogengeschäft liegen die Gründe für den 'zweiten Mafiakrieg', der Anfang der 80er Jahre mit mehreren hundert Toten zu Ende geht. Der 'zweite Mafiakrieg' ist "eine Art Klassenkampf" gegen diejenigen Mafiosi, die sich aus dem Drogenhandel bereichern. Der Kampf führt zu einem Austausch der Führung und einer Zentralisierung der militärischen Macht in der ‚Kommission' unter der Leitung von Toto Riina.
Mit Beginn des 'zweiten Mafiakrieges' setzt in Sizilien "ein Massaker an Persönlichkeiten ersten Ranges ein" (S. 312). Diese 1979 begonnene terroristische Eskalation gegen Richter, Polizisten und ehrliche Politiker stellt die größte Diskontinuität in der über hundertjährigen Geschichte der sizilianischen Mafia dar. Zielscheibe sind "die Wenigen, die engagierte und intelligente Antworten geben" (S. 313) und die sich "mit den Mafiosi auf eine persönliche Auseinandersetzung einlassen, die die tödliche Reaktion begünstigt" (S. 316). Trotz der Gewalt, trotz der halbherzigen Unterstützung des Staates und trotz Kritik von links, die eine "Handschellenkultur" befürchtet, kommt es 1986 zur Eröffnung des Maxiprozesses von Palermo, der, gestützt auf den neuen Straftatbestand der mafiosen Vereinigung und die Aussagen des Mafiaüberläufers Tomaso Buscetta, erstmals die Cosa Nostra als solche zum Gegenstand macht. Die Mitglieder der ‚Kommission' müssen sich für Verbrechen verantworten, die mit ihrer Genehmigung verübt worden sind.
1992, mit der endgültigen Bestätigung der Verurteilungen des Maxiprozesses, zeigt sich die Unfähigkeit der mit der Mafia verbündeten Politiker, die Justiz unter Kontrolle zu halten. Daraufhin reagiert die Mafia mit Gewalt. Die Anti-Mafia Staatsanwälte Falcone und Borsellino werden ebenso ermordet wie der christdemokratische Verbindungsmann zwischen Mafia und nationaler Politik, Lima. Der Versuch jedoch, mit einer Strategie der Einschüchterung Einfluss zu nehmen, scheitert. Die Anführer der Mafia werden verhaftet und schließlich Ende 1996 verurteilt.

Beurteilung:
Lupos Geschichte der sizilianischen Mafia, im Original erstveröffentlicht im Jahre 1996, ist stark essayistisch geprägt. Es ähnelt einem expressionistischen Gemälde, in dem der einzelne Pinselstrich seine Bedeutung erst in der Zusammenschau erhält. Anders als bei historischen Abhandlungen üblich, steht nicht die Chronologie der Ereignisse im Vordergrund, sondern einzelne Themen, wie die Interpretation der Mafia im Kontext der italienischen Politik oder die personellen Verflechtungen zwischen Mafia und Oberschicht, auf die der Autor immer wieder zurück kommt, allerdings eher selten mit klaren und andeutungsfreien Aussagen. Das Verständnis wird zusätzlich dadurch erschwert, dass Lupo auf Personen und Ereignisse der italienischen Geschichte Bezug nimmt, ohne deren Bedeutung zu erläutern. Schließlich fehlt ein Stichwortverzeichnis, das das Zurechtfinden in der Materie wesentlich erleichtern würde. So ist dieses Buch vor allem als Ergänzung zu anderen Büchern zur Geschichte der Mafia geeignet und der eigentliche Wert liegt in der Originalität der vertretenen Thesen. Das betrifft insbesondere die Frage der kulturellen Einbettung der Mafia. Hier bezieht Lupo Position gegen arrogante konservative Bewertungen der sizilianischen Gesellschaft und linke Interpretationen der Mafia als Ausdruck ‚archaischer' Machtverhältnisse. Er argumentiert, die Identifizierung der Mafia mit der sizilianischen Kultur sei in erster Linie eine Selbstinszenierung, der nicht zuletzt die Mafiaforscher der 60er und 70er Jahre, namentlich Henner Hess, auf den Leim gegangen seien, die in Verkennung der Tatsachen die Existenz der Mafia als Organisation geleugnet hätten.

Gesamtbewertung:
Ein anregendes Buch für "fortgeschrittene" Leser, das aufgrund seines essayistischen, schwer verständlichen Stils als historische Einführung in die Thematik der sizilianischen Mafia nicht geeignet ist.


Weiterführende Literatur
Arlacchi, Pino, Mafia von Innen: Das Leben des Don Antonino Calderone, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1993
Catanzaro, Raimondo, Men of Respect: A Social History of the Sicilian Mafia, New York: The Free Press, 1992 [siehe englischsprachige Rezension]
Gambetta, Diego, Die Firma der Paten: Die sizilianische Mafia und ihre Geschäftspraktiken, München: dtv, 1994
Hess, Henner, Mafia: Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg: Herder, 1996
Neubacher, Frank, Strukturen und Strategien der Mafia: Einblicke in die neuere italienische Literatur, Neue Kriminalpolitik, 14(2), 2002, 44-46
Raith, Werner, Parasiten und Patrone: Siziliens Mafia greift nach der Macht, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1992
Siebert, Renate, Im Schatten der Mafia: die Frauen, die Mafia und das Gesetz, Hamburg: Hamburger Edition, 1997
Stille, Alexander, Die Richter: Der Tod, die Mafia und die italienische Republik, München: C.H. Beck, 1997


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